Wehe den Besiegten Kriminalroman.

2. Band der "Wiener Bibliothek der Vergeblichkeiten"

Erscheinungstermin: Ende April 2013

ISBN 9-783-90290-021-0

256 Seiten, geb., Euro 20,40/19,80

echomedia Buchverlag, Wien

Es hätte ein wunderbarer Sonntagnachmittag im Wiener Prater werden sollen. Aber dann landet im Auslauf der Rutsche des Toboggan der Kopf eines Mannes und rollt vor die Füße der entsetzt aufschreienden Menschenmasse. Der restliche Körper kommt Sekundenbruchteile danach die Rutsche herunter. Das ist der Beginn einer Mordserie, wie sie der Wiener Prater noch nicht erlebt hat. Kein Wahrzeichen bleibt verschont…

Der zweite Band der »Wiener Trilogie der Vergeblichkeiten« beschäftigt sich mit wichtigen Fragen: Was treiben die Wiener Hochfinanz und der Kreis um Grapschmann? Sind sie in die Pratermorde verwickelt? Und was haben diese Morde an Geistlichen mit diversen Priesterinitiativen und dem Massaker der SS im März 1944 in den Ardeatinischen Höhlen Roms zu tun? Gelingt es endlich, Grapschmann hinter Schloss und Riegel zu bringen? Wie oft kommt Schnittling diesmal in U-Haft, und wie hoch steigt seine Kaution? Kann man Enzian mit 65% Alkoholgehalt überleben? Wird Chiara Licht ins Dunkel einer plötzlich präsenten Vergangenheit bringen können? Und werden Michele und Chiara endgültig ein Paar?

Wir alle, die wir träumen und denken,

sind Buchhalter und Hilfsbuchhalter in

einem Stoffgeschäft oder irgendeinem

anderen Geschäft in irgendeiner Unterstadt.

Wir führen Buch und erleiden Verluste;

wir ziehen die Summe und gehen vorrüber;

wir schließen die Bilanz, und der unsichtbare

Saldo spricht immer gegen uns.

Fernando Pessoa (1888 1935)

Leseproben - Beginn des 1. bzw. des 2. Kapitels

1. Kapitel: Rom 1944, Offene Stadt

Angriff

Was für ein Tag.
Der Himmel war strahlend blau, eine wohlige Wärme erfüllte die Stadt, die Temperatur erreichte 25 Grad, es war nicht nur der erst zweite richtige Frühlingstag, sondern gleichzeitig auch der bisher wärmste Tag des Jahres.
Zudem war am 23. März 1944 der 25. Jahrestag der Gründung der faschistischen Bewegung durch Mussolini. Nachdem die Deutschen im September 1943 die Hauptstadt Italiens besetzt hatten, erklärte Generalfeldmarschall Kesselring Rom zur Offenen Stadt, ohne es jedoch dieser Verlautbarung entsprechend von Militärs und Waffen freizuhalten. Stattdessen militarisierte er die Stadt in bisher nie gekanntem Ausmaß.
Regelmäßig paradierten Truppen durch die Straßen Roms, der Widerstand organisierte sich. Man erwartete die baldige Befreiung der Stadt durch alliierte Truppen. Tage wie diesen 23. März nannten die Römer inzwischen »B-17-Tage« nach den Bomberflugzeugen der Amerikaner, denn das strahlende Wetter sorgte für klare Sicht auf die Angriffsziele und die Windstille erleichterte das zielgenaue Abwerfen der Bombenfracht. Heute aber tauchte kein einziges Flugzeug der amerikanischen Luftwaffe am Himmel auf.
In der Via Rasella war es kühler als in anderen Teilen der Stadt. Die Gasse war eng und abschüssig, die Sonnenstrahlen erreichten nur kurz um die Mittagszeit, wenn die Sonne im Zenit stand, das unebene Kopfsteinpflaster dieser unbedeutenden Verbindungsstraße zwischen anderen, größeren und wichtigeren Straßen der Stadt.
Die deutschen Nazis hatten den italienischen Faschisten verboten, den Jubiläumstag in Rom öffentlich zu feiern. Man wollte die ohnedies widerwillige Bevölkerung nicht zusätzlich provozieren. Major Dobbrick, der Kommandant des Dritten Bozener SS-Bataillons, hatte daher beschlossen, aus Sicherheitsgründen den üblichen Aufmarsch der 11. Kompanie um über eine Stunde zu verzögern und so erst in der ruhigsten Zeit des römischen Nachmittags durch die Stadt zu paradieren und unnötiges Aufsehen zu vermeiden.
Langsam und im Gleichschritt bog die 11. Kom­panie mit mehr als einer Stunde Verspätung in die Via Rasella ein. Einer der Offiziere gab das Kommando »Ein Lied!« aus, und die Truppe begann lauthals zu singen:
Hupf nur Mäderl, geh, hupf recht hoch,
hupf, Mäderl, recht hoch!
Heute schlag ich der Welt ein Loch!
Heute weiß ich, ich kann es noch!
Hupf nur Mäderl, geh, hupf recht hoch,
hupf und schrei hurra!
Heute leb ich und sterb ich,
doch dauert's nicht ewig,
drum hupf nur Mäderl, hurra!
Das Hallern beim gleichmäßigen Aufstampfen der Füße der Soldaten beim Paradeschritt übertönte immer mehr das Lied; die Gasse, die Luft zwischen den Häusern schienen erfüllt vom dumpfen, idiotisch-gleichmäßig hämmernden Klang einer einzigen, riesigen Trommel.
Die Häuserschlucht war beinahe menschenleer. Zehn Partisanen lauerten teilweise versteckt auf die Gelegenheit zum Angriff, denn aus dieser engen Straße gab es kein Entkommen. Nur drei oder vier von ihnen waren zu sehen. Singend und stampfend mit den Maschinengewehren im Anschlag war nun die ganze Kom­panie in der Gasse und näherte sich langsam der Anhöhe am Ende der Via Rasella. Einer der Partisanen zündete die Lunte, die jene achtzehn Kilogramm Spreng­stoff zum Explodieren bringen sollte, die in einer Mülltonne verstaut worden waren. Er legte seine Mütze auf die Tonne, was für die Mitverschwörer das Zeichen war, daß in ungefähr fünfzig Sekunden die Bombe hochgehen würde. Er entfernte sich mit schnellen Schritten und suchte Deckung in einem Haus. Kaum detonierte die Bombe, warfen andere Mitglieder der Gruppe einige Mörsergranaten in die Via Rasella, wodurch die Soldaten glaubten, sie würden auch aus den Häusern beschossen.
Die ersten Reihen der Kompanie wurden weggeschleudert, die Fenster barsten, Mauerteile fielen herunter, Körper wurden zerfetzt, Blut ran zwischen den Ritzen des Kopfsteinpflasters die Straße hinunter, überall lagen Tote und Verletzte. Die Überlebenden SSler Schoßen panisch und ziellos mit ihren MGs herum. Der Kopf eines Soldaten war durch die Wucht der Explosion von dessen Körper gerissen worden und rollte von Kopfstein zu Kopfstein hüpfend die Via Rasella hinunter, bis er gegen den am Boden liegenden Körper eines anderen Soldaten schlug und ebenfalls liegen blieb.

Der Angriff der Partisanen hatte kaum fünf Minuten gedauert, und alle schafften die Flucht. Die Verluste der Nazis betrugen sechzig Prozent, darunter 33 Tote, der Rest Schwerverletzte. Die 11. Kompanie des Dritten Bozener SS-Bataillons existierte nicht mehr.

2. Kapitel: Köpferollen

Frühling

Was für ein Tag.

Der Himmel war strahlend blau, eine wohlige Wärme erfüllte die Stadt. Du hattest jeden Grund, glücklich zu sein. Es war eine Freude zu existieren, am Leben zu sein. Die Welt zu spüren. Nicht ans Morgen zu denken. Genau genommen überhaupt nicht zu denken. Sich vom Luft­hauch mühelos durch die Gassen und Alleen treiben zu lassen. Denn ein milder Frühlingswind strich durch die Haare der Menschen und das Geäst der Bäume, die schein­bar einem alten Wienerlied gehorchend soeben wieder erblüht waren. Du schlendertest durch den Wurstelprater, spürtest die Frau an deiner Seite, rochst den dezenten Duft ihres Parfums, spürtest ihre Lippen, Chanel Rouge allure excessive, man erinnert sich. Ein paar Kin­der über­holten euch, sie sprachen laut durcheinander und versuchten, ihre Eltern zu einem bestimmten Ringelspiel zu lotsen. Und sogar diese Eltern mach­ten, obwohl sie leicht genervt zu sein schie­nen, gute Miene zum lauen Wind, legten ein Lächeln auf und folg­ten ihren zerrenden, knauernd insistierenden Kindern nach kurzem Zögern in Rich­tung eines Karussells.
»Was für ein Tag«, flüsterte Chiara dir ins Ohr. Was für ein Tag! Es war eine Freude zu leben.
Du hattest jeden Grund, glücklich zu sein.
Es war einer jener seltenen Augenblicke, da Himmel und Erde für einen kurzen Moment ununterscheidbar zusammenwuchsen. Du atmetest tief durch, die warme Nach­mittagsluft tat deinen vom Winter geschundenen Bronchien gut, im Gegenzug lebte deine Nase niesend ihre Allergie gegen die ersten Blütenpollen aus, die unsichtbar in der Atmosphäre schwe­bten. Eigentlich solltest du endlich wieder den Arzt aufsuchen und eine Desensibilisierung machen. Aber wer geht schon gerne zu Ärzten. Die bringen bloß Unheil und finden immer neue Gebrechen; in ärztlichen Händen und unter ihren Augen ist Ge­sundheit eine banale Messungenauigkeit, Gesunde nichts anderes als wan­delnde Messfehler. Der Fortschritt der Medizintechnik gebiert täglich mehr Kran­ke und folglich hohe Profite. Nicht die Spritzen und Medikamente fürch­test du, sondern die Elektroden und Meßgeräte. Alle Zeiger im roten Bereich, das ist das wahre Leben. Meide die Ärzte! Trau ausschließlich den Pathologen, denn nur sie verschreiben dir keine Pülverchen mehr.
Du warst soeben zurückgekehrt. Die letzten Tage in Montalcino waren schnell vergangen, ein Dauerrausch getränkt von neuen Eindrücken, vielen Flaschen Brunello und den verrückten Hormonen einer eben erwachenden, sanft und beinahe lautlos sich heranschleichenden Liebe. Wenn es denn Liebe war. Wer weiß das schon. Wer kann das mit Sicherheit sagen.
»Liebst du mich?«, fragte Chiara.
»Ein verdammt großes Wort«, hörst du dich erschrocken flüstern. Ein Ausweichmanöver, obwohl du gar nicht ausweichen wolltest. Und doch weicht man sein Leben lang aus. Nur den Nebensächlichkeiten bleien wir stets auf der Spur. Irgendwo in einem fernen Dunkel lauerte ohnedies das Unausweichliche. Aber an einem Tag wie heute? Wen interessierte da das Unausweichliche?
»Warum liebst du mich nicht?«, ließ sie nicht locker und blieb stehen, legte dir den Zeigefinger auf die Lippen, »Psst, sag nichts. Die kleinen Worte lohnen nicht. Haben sich nie gelohnt. Du mußt die großen Worte wagen.« Sie nahm den Zeigefinger von deinen Lippen, hackte sich wieder unter und drückte sich eng an dich. Ich und die Wagnisse der Liebe, denkst du beinahe konsterniert und sagst: »Ich und die Wagnisse der Liebe.« Sie drück­te sich noch enger an dich.
Im Süden war das Früh­jahr schon deutlich wei­ter fortgeschritten gewesen, hatte bereits den Hauch des nahenden Frühsommers verströmt, während hier in Wien der Frühling sich gemütlich im Bett räkelte, mit einem Fuß die Decke des Win­ters beiseite schob und noch zögerte, sich end­gültig zwischen Kälte und Wärme zu ent­scheiden. Im Zweifelsfall zog der Frühling den Fuß schnell wieder zurück unter die Tu­chent, krümm­te sich noch einmal zusammen und schli­ef zufrieden weiter. Der Frühling ging keine Wag­nisse ein, er war das Wagnis: das Wagnis der erwachenden Natur. Vielleicht war das die Ant­wort, auf die Chiara wartete. Aber der Frühling konnte nicht anders, er mußte antworten. Du nicht; du konn­test dich verschweigen.
»Du kannst nicht anders«, sagte Chiara, »du mußt mich lieben. Du wirst mich lieben. Un­ausweichlich, und du weißt es.« Sie sprach sehr leise, du konntest ihre Worte kaum verstehen, weil der Wind sie vertrug. Falsche Richtung. Ausweichen. Ein paar Meter gewinnen, bevor man Farbe bekennen muß. Du warst ein geübter Zwei-Meter-Läufer. Mehr Strecke brauchte es nicht. Brauchtest du nicht. Hattest du bisher nie ge­braucht. Zwei Millimeter Vorsprung, das war das Leben. Doch sie kam näher. Du spürtest ihren Atem.

»Du wirst mich für immer lieben. Wenigstens einen kurzen Tag lang.«
Wenn es denn Liebe war. Warum sollten ausgerechnet Zwei-Meter-Läufer nicht einzuholen sein? Warum auf zwei Millimeter Einsamkeit beharren? Was für ein Tag! Es war eine Freude zu leben und ein wenig verwirrend zugleich. Es mußte am Wind liegen. Am lauen.
»Der Wind«, nickte Chiara, »der Wind. Es ist immer der Wind. Er ist mild, wie er den ganzen Win­ter nicht war. Vergiß das mit der Liebe. Verlieb dich niemals, und schon gar nicht in mich.«
Ich hatte schon immer alle Warnungen in den Wind geschlagen. Wenn ich denn irgendein Talent hatte, dann das, jede Warnung zu überhören und jedem Wind zu trotzen, und mochte er noch so lau sein.